Meine Begegnung mit Paul-Josef Raue
von KLAUS KELLE
ERFURT – Paul-Josef Raue ist tot. Der frühere Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen (bis August 2015) starb vor wenigen Tagen im Alter von 68 Jahren. Ein Kind des Ruhrgebiets (geboren in Castrop-Rauxel), ein begnadeter Blattmacher, der nicht nur für seine Kreativität und seinen Hunger nach Themen bekannt war, sondern in seiner Zeit in Magdeburg und Erfurt auch ein großer Freund, ja Bewunderer der Menschen im Osten Deutschlands wurde, die als Einzige auf deutschem Boden eine friedliche Revolution erfolgreich hinbekommen haben.
Wir trafen uns irgendwann – es muss wohl 2014 gewesen sein – in einem italienischen Restaurant am Domplatz. Raue suchte einen neuen Chef vom Dienst für die TA, in der ein Kulturkampf tobte, wie ich in vier spannenden und unterhalsamen Stunden zwischen Pasta und Tiramisu erfuhr. Ein Top-Manager der Funke-Gruppe (WAZ) hatte gehört, dass Raue einen Mann mit Erfahrung suchte, der „Blatt machen kann“ und Erfahrung bei Medien hatte, die nach neuen Ideen für Erfolg auf dem Lesermarkt suchten. Der Mann in Essen schlug mich vor, und so fuhr ich halt nach Erfurt, wo ich nur ein einziges Mal vorher gewesen war. Im Volkskammerwahlkampf 1990 berichtete ich für den Berliner Privatsender Hundert,6 genau von diese Domplatz über die erste große Wahlkundgebung der Allianz für Deutschland mit dem Hauptredner und Bundeskanzler Helmut Kohl von der CDU. 150.000 Menschen drängten sich hier an diesem Tag, ein Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen wehte, revolutionäre Stimmung war mit Händen zu greifen, Patriotismus pur. Ich notierte ein paar Sätze, hielt das Mikrofon meines Aufnahmegerätes in den Himmel, um die mitreißende Atmosphäre für ein paar Minuten einzufangen. Dann packte ich alles in meine Umhängetasche und ließ mich mitreissen von dieser Menge, die genug hatte vom SED-Staat und die nach Freiheit hungerte. Ich jubelte mit, und hatte feuchte Augen als am Schluss „Einigkeit und Recht und Freiheit“ angestimmt wurde. Unabhängiger und überparteilicher Reporter? Scheiss drauf! Ich sang laut mit und hatte Gänsehaut.
All das erzählte ich Raue, und wir tauschten unsere Erinnerungen als Wessis an der Spitze einstiger Ostmedien aus. Er war u. a. Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung dann Volksstimme in Magdeburg und der Thüringer Allgemeinen. Ich war Chefredakteur 1991 bis 1993 beim privatisierten Berliner Rundfunk. Es waren wilde Zeiten für uns beide, aber historische und lehrreiche Zeiten. An meinem ersten Arbeitstag beim Berliner Rundfunk erschien ich in Begleitung von zehn West-Kollegen, die fortan zusammen mit mir den redaktionellen Kurs bestimmen sollten. Uns gegenüber saßen 20 Journalisten und Moderatoren aus Ostdeutshland, alles natürlich auch Profis, die meisten hatten an der roten SED-Kaderschmiede für Journalisten in Leipzig studiert. Einmarsch, der Klassenfeind war da… Ich weiß noch, als wir in den Nalepastraße auf den Parkplatz fuhren, zwei im Cabrio, andere mit Ray Ban-Sonnenbrillen auf der Nase. Der arrogante Besserwessi als lebende Karrikatur….
Später erfuhr ich, dass eine der Ost-Kolleginnen vor meinem Dienstantritt meinen Lebenslauf gegoogelt und an ein – ausgerechnet – schwarzes Brett im Sender gehängt hatte. CDU-Mitglied…auch das noch. Nicht wenige waren überzeugt, jetzt als Linker bald seinen Job zu verlieren.
Sechs Monate saßen meine Redakteure in der Kantine mittags streng getrennt an den Tischen – Ossis da, Wessis dort. Bis sich einer der Ost-Kollegen eines Tages einfach so an „unseren Tisch“ setzte und damit das Eis brach. Es wurde dann eine wunderbare Zeit für uns alle und der Beweis, dass Ossis und Wessis durchaus miteinander können.
Solche Geschichten hatte natürlich auch Paul-Josef Raue auf Lager, aber ich erzähle sie hier nicht, weil ich glaube, er würde das nicht wollen. Zusammengefasst: Er, der Wessi, hatte es allein nicht leicht in seiner neuen Redaktion, wurde selbst von seinen engsten Mitarbeitern ignoriert und mit ausgesprochener Unfreundlichkeit gestraft. Das eskalierte völlig als sich der Verlag vom bisherigen Chefredakteur Sergej Lochthofen und dessen Ehefrau Antje-Maria – damals stellvertretende Chefredakteurin – wegen Meinungsverschiedenheiten über Stellenabbau und einen zentralen Newsdesk trennte. Redaktion und viele Leser begehrten gegen den Überbringer der schlechten Nachrichten auf. Über all das sprachen wir sehr offen und bestellten noch einen Espresso.
Dann kamen wir zum Eigentlichen. „Sie würden hier absolut reinpassen, wenn Sie sich das selbst antun wollen“, sagte der Chefredakteur. Und weiter „Aber leider sind Sie keine Frau und kommen nicht aus dem Osten…“
Ich werde Paul-Josef Raue und diesen Nachmittag in Erfurt niemals vergessen. Möge er in Frieden ruhen….